Interview mit Adilson Pereira de Souza und Jürg Ackermann (2012)

Adilson Pereira de Souza ist der Gründer und Leiter des Favela-Projektes „Passos da criança“. Dieses funktioniert wie eine Tagesstätte und betreut Kinder, die sonst ihren Tag auf der Strasse verbringen. Jürg Ackermann war zum Zeitpunkt des Interviews die Kontaktperson für den Strassenkinderverein und kennt Adilson sehr gut.

Im Rahmen der Polistage haben wir Adilson ein E-mail mit Interview-Fragen geschrieben. Aufgrund der Zeitverschiebung ist die Antwort nicht rechtzeitig eingetroffen. Daraufhin stellten wir die selben Fragen an Jürg Ackermann. Kurz nachdem das Interview vollständig war, trafen die Antworten von Adilson doch noch ein, was uns in die spannende Lage bringt, die Sichtweise des Vereins in der Schweiz und des Projektleiters in Brasilien zu zeigen.

Foto: Adilson Pereira de Souza, Jürg Ackermann

Warum machst du diese Arbeit? Was sind deine persönlichen Hintergründe?

Adilson: Es ist eine Bürgerpflicht, dazu beizutragen die Gesellschaft zu verbessern. Vor allem, wenn die Grundrechte wie Gesundheit, Ernährung, Erziehung, Ausbildung, Arbeit, etc. verletzt werden. Wir müssen uns organisieren und diejenigen unterstützen, welche dafür kämpfen, dass diese Rechte erfüllt werden. Unglücklicherweise machen wir die Arbeit, welche eigentlich die der Regierung wäre.

Ich selber litt sehr während 10 Jahren auf der Strasse. Ich will nicht, dass Kinder um zu überleben auf die Strasse gehen, denn sehr oft gehen sie und kommen nicht zurück. Die einen sterben dort, andere schaffen es nie mehr, von da weg zu kommen. Meine eigene Erfahrung auf der Strasse hat mich vieles gelehrt, was Studierte niemals verstehen werden. Wir müssen diesen Kindern helfen und sie unterstützen, dass sie bei ihren Familien bleiben können, egal ob diese reich oder arm sind. Es ist unsere Pflicht, dass diese Verbindung nicht unterbrochen wird und dass die Kinder in einem gesunden Umfeld von Liebe, Zärtlichkeit und Respekt aufwachsen können. Ich versuche diesen Kindern zu zeigen, dass es Alternativen gibt im Leben, weg von den Drogen, weg von der Strasse.

Jürg: Dass Adilson seine Arbeit in einem eigenen Projekt macht, hat zu einem wichtigen Teil mit seiner Vergangenheit zu tun. Adilson war selber Strassenkind und lebte in Fernandos Chácara. Er hat also aus nächster Nähe miterlebt, was es heisst, am Rande der Gesellschaft aufzuwachsen. Seine reichen Erfahrungen will er nun als Projektleiter weitergeben.

Was musst du opfern und was für einen mentalen und emotionalen Gewinn hast du davon?

Adilson: Ich verzichte oft darauf, Freizeit mit meiner Frau zu verbringen. Erst spät gehe ich schlafen (z.B. ist es jetzt 1:15 Uhr nachts und ich beantworte eure Fragen). Manchmal kann ich nicht schlafen und denke am meine Verantwortung für die Kinder. Oft beschäftigen mich Schwierigkeiten, mit denen sich mein Team gerade beschäftigt, z.B. wenn herauskommt, dass Kinder sexuell missbraucht werden durch Verwandte oder Pädophile.

Oft arbeite ich nachts und entwickle Projekte für mehr Mitarbeiter, wenn ich eigentlich schlafen sollte. Es hilft mir, wenn ich sehe, dass jemand sein Leben ändern und verbessern konnte. Ich habe kaum Freizeit, noch Zeit zum Arzt zu gehen. Eigentlich denke ich mehr an andere als an mich selbst. Aber das wird und muss sich verbessern, damit mir nicht die Puste ausgeht. Immer wieder Kraft gibt mir jedoch der Fortschritt des Projekts und was wir mit dem alles schon erreicht haben. Mein Selbstwertgefühl ist dadurch sehr gut.

Ich fühle mich überglücklich, wenn jemand uns helfen will, damit unsere Kinder eine bessere Zukunft haben. Das gibt mir Freude und Motivation. Ich höre nicht auf daran zu denken, was Menschen wegen ihrer Armut zu erleiden haben. Dabei geht es nicht nur um die materielle Armut, sondern auch um fehlende Liebe und Zuneigung.

Jürg: Da Adilson hauptberuflich in einem anderen Sozialprojekt, in der Abai, arbeitet, macht er die Arbeit für sein eigenes Projekt vor allem in der Freizeit. Zu sehen, dass es gelingt, den Kindern in einem geschützten Umfeld eine ihnen gemässe Entwicklung zu ermöglichen, ihnen bei Schwierigkeiten in der Schule zu helfen, sie von der Strasse zu holen, dürfte Befriedigung genug sein.

Kannst du alle Kinder aufnehmen, die ins Projekt kommen wollen? Wie entscheidest du, wer aufgenommen wird und wer nicht?

Adilson: Nein, ich kann nicht alle Kinder aufnehmen. Mein Projekt ist klein, ich habe nur Platz für 60 Kinder und Jugendliche. Aber am Wichtigsten ist, zuerst die sehr schwachen, verletzlichen Kinder, welche sehr gefährdet sind (durch Armut, Drogen, Prostitution, drogensüchtige Eltern und sammeln von recyklierbarem Abfall) aufzunehmen. Solche Kinder sind stark gefährdet, selber Drogendealer oder Drogenkurriere zu werden.

Sowohl Knaben als auch Mädchen prostituieren sich, um den Drogenkonsum zu finanzieren oder zum Unterhalt der Familie beizutragen. In meiner Gemeinde (Stadtkreis), wo auch mein Projekt steht, haben wir mehrere Kinder, die im Drogenhandel tätig sind und sehr junge Mütter (Minderjährige), die ihren Körper für 5 Reais (Fr. 2.50) verkaufen, um damit ihren Crack-Konsum zu finanzieren. Es gibt keine Plätze, um Frauen gegen die Drogensucht zu behandeln, es ist unglaublich schwierig, solch jungen Frauen zu helfen.

Jürg: Das wichtigste Kriterium ist der Platz: Die derzeitige Infrastruktur bietet höchstens 50 Kindern Platz. Derzeit kann also nur ein neues Kind aufgenommen werden, wenn ein anderes das Projekt verlässt – wenn es beispielsweise in eine andere Schule geht oder die Familie das Quartier, in dem Adilsons Projekt beheimatet ist, verlässt.

Wie ist die Gesundheit der Kinder physisch und psychisch?

Adilson: Wenn die Kinder zu uns kommen, sind sie oft sehr mager und schwach, weil sie zuhause kaum zu essen haben. Dies wirkt sich negativ auf ihre Lernfähigkeit aus. Wir haben auch Kinder mit anderen Lernschwierigkeiten. Einige können nur schlecht sprechen, andere leiden psychisch unter gewalttätigen und sexuellen Übergriffen und werden von unserer Psychologin zusätzlich betreut. Wir haben Kinder, die vielerlei Verletzungen erlitten haben, vernachlässigt worden sind und so verwahrlosen. Andere leiden unter Krankheiten wegen mangelnder Hygiene, weil sie mit Ratten und anden Viechern zusammen leben müssen.

Was für eine Veränderung kann man beobachten, wenn die Kinder ins Projekt kommen?

Adilson: Unserem Projekt wird von der Fürsorge ein hoher Qualitätsstandard zugesprochen. Das gilt vor allem für unser qualifiziertes Personal. Sie alle unterstützen die Kinder, ihre Scheu zu verlieren und sich in den verschiedenen Angeboten zu betätigen. Unsere Kinder müssen kaum eine Klasse wiederholen und fehlten z.b. im Jahr 2011 nur selten in der Schule. Mehr Freude, weniger Gewalt, eine Verbesserung der Sprache (es wird weniger geflucht). Die Kinder kommen gerne ins Projekt, dass sieht man an ihrer Freude, ihrem Lächeln, auch wenn sie es nicht sagen.

Jürg: Oft durchleben die Kinder, die ins Projekt kommen, zu Hause schwierige Zeiten. Die Familien sind zerrüttet, es gibt Alkohol-Probleme. Das Projekt, das als Tagesstätte funktioniert, versucht den Kindern in erster Linie ein sicheres Zuhause zu geben. Statt auf der Strasse „herumzulungern“ können sie im Projekt spielen, Hausaufgaben machen oder, falls nötig, werden sie auch psychologisch betreut. Mit dieser „Sicherheit“ im Rücken gelingt es den Kindern in nicht wenigen Fällen, sich besser in die Gesellschaft zu integrieren und auch die Schulleistungen zu steigern.

Wie viele Leute arbeiten im Projekt?

Adilson: 3 Erzieher, 1 Psychologin, 1 Pädagogin, 1 Koordinatorin, 1 Köchin, 1 Putzfrau, 1 Lehrer für Theaterspielen, 1 Lehrer für Capoeira, 1 Englischlehrerin, bald werden wir auch eine Informatiklehrerin haben.

Jürg: Die Löhne für diese Personen werden grossmehrheitlich mit Spendengeldern aus der Schweiz finanziert. Adilson als (ehrenamtlicher) Projektleiter kommt noch hinzu. Zudem gibt es einen Conselho Tutelar, eine Art Aufsichtsgremium, welche die Arbeit des Projekts beurteilt und darüber wacht, dass die selber gesteckten Ziele eingehalten werden.

Wie wird die Ausbildung der Kinder im Projekt unterstützt?

Jürg: Die Betreuer helfen vor allem bei den Schularbeiten. Dann kommt es auch vor, dass sie in schwierigen Fällen das Gespräch mit den Lehrerinnen und Lehrern suchen. Zudem versuchen Adilson und seine Leute den Kindern zu vermitteln, wie wichtig die Schulbildung fürs spätere Leben ist.

Was ist dein grösster Traum? Was wünschst du dir für die Zukunft?

Adilson: Mein grösster Traum ist es, ein grosses Grundstück zu haben, damit wir auch mehr Sportaktivitäten ausüben können. Dies würde mehr Freizeitvergnügen für die Kinder bedeuten. Ich wünsche mir einen Raum mit Bühne, damit die Kinder dort ihre Aufführungen haben können, das wäre das Grösste für mich. Ich träume nicht nur für mich, sondern möchte andere glücklich sehen, in Liebe und Frieden.

Für die Zukunft wünsche ich mir, dass diese besser wird, als es heute ist. Weniger Drogen, weniger Gewalt, weniger Armut in der Welt, mehr Frieden in den Familien. Ich wünsche mir, dass Kinder, die in Heimen leben, ihre Schwierigkeiten überwinden können und dass unsere Regierenden weniger korrupt sind und mehr in die Ausbildung und in die notwendigen Projekte der Gesellschaft investieren.

Dieses Interview wurde von Vicki Stiefel, Martina Bill & Zoe Müller vom MNG Rämibühl im Rahmen der Polistage 2012 geführt.